Gurdjieff Heute

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Gurdjieffs Lehre


GurdjieffGeorg Iwanowitsch Gurdjieff (1866-1949) war eine der außerordentlichen spirituellen Persönlichkeiten des 20. Jh. Während andere große Lehrer innerhalb einer Tradition standen oder stehen, hat Gurdjieff wie sein Zeitgenosse Rudolf Steiner (1861-1925) einen eigenen Weg begründet. Durch die Veröffentlichung seiner Lehre von seinem Schüler P. D. Ouspensky „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“ wird dieser Weg als der „Vierte Weg“ bezeichnet, weil er – bildhaft gesprochen – die Wege des Fakirs (Körper, Karma-Yoga), des Mönches (Seele, Bhakti-Yoga) und des Yogi (Geist, Raja-Yoga) vereint. Doch es ist mehr als eine Synthese. Es geht um die Transformation des Menschen zur Ganzheit, in dem das „wirkliche Ich“, der individuelle spirituelle „Wille“ seinen Platz im Wesen des Menschen einnimmt, denn nach Gurdjieffs Einsichten leben wir mehr in der äußeren, fremdbestimmten Persönlichkeit.
Gurdjieff absolvierte ab 1914 die erste Phase seiner Lehrtätigkeit in St. Petersburg und Moskau. Während dieser Zeit stießen später so bedeutende Schüler wie der russische Journalist P. D. Ouspensky, der Komponist Thomas und die Pianistin und Tänzerin Olga de Hartmann in seine Gruppe. Besonders diese drei waren maßgeblich an der Verbreitung seiner Lehre beteiligt. Ouspensky durch das erwähnte Buch und seine Aktivitäten in England in den 1920er bis 1940er Jahren, Thomas de Hartmann durch die Kompositionen von Gurdjieffs Musik und der Entwicklung der Movements. Wie viele Frauen spielte Olga de Hartmann ihre bedeutende Rolle mehr im Hintergrund. Nach dem Tod ihres Mannes lebte sie in den USA und leitete eigene Gruppen.
Auf der Flucht vor der russischen Revolution stießen in Tiflis, Georgien, der Bühnenbildner Alexandre de Salzmann und die Rhythmiklehrerin Jeanne de Salzmann zu seiner Gruppe, mit der er 1918 vor der Russischen Revolution geflohen war und sich jeweils kurze Zeit an verschiedenen Orten wie Tiflis und Istanbul niederließ. Beide spielten eine wichtige Rolle in Gurdjieffs weiterer Arbeit. Als die Gruppe schließlich 1919 nach Deutschland kam, führte Alexandre de Salzmann Gurdjieff zur „Bildungsanstalt Jacques-Dalcroze“ in Hellerau bei Dresden, wo Salzmann 1916 ein Bühnenbild für eine Aufführung einer Oper mit der Tanzform der Rhythmik nach Emile Jacques-Dalcroze kreiert hatte. Dort versuchte Gurdjieff sein geplantes Institut anzusiedeln, das aus verschiedenen Gründen nicht gelang. Jeanne de Salzmann und später noch weitere Schülerinnen von Jaques-Dalcroze waren maßgeblich an der Entwicklung der Movements beteiligt, in die viele Elemente der Rhythmik einflossen. Als Gurdjieff weder in Berlin noch Hellerau eine Heimat fand, zog er weiter nach Frankreich. In Paris hörte er von einem Grundstück in der Nähe von Fontainebleau bei Paris, das er dann kaufte und wo er 1922 sein Institut für die „Harmonische Entwicklung des Menschen“ begründete.

Viele damals berühmte Frauen und Männer aus Kunst, Literatur und Wissenschaft besuchten das sehr improvisierte Ausbildungsinstitut in der alten Prieuré. Durch sie wurden seine Ideen auf vielfältige Weise besonders in den angelsächsischen Ländern verbreitet und beeinflussten spätere Entwicklungen wie die humanistische und transpersonale Psychologie. Durch P.D. Ouspenskys Werk „Auf der Suche nach dem Wunderbaren – Fragmente einer unbekannten Lehre“, das erst nach dessen Tod 1949 veröffentlicht wurde, wurden Gurdjieffs Ideen weltweit bekannt – bekannter als Gurdjieff selbst mit seinem eigenen Hauptwerk „All und Alles – Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel“.

EnneagrammHeute sehr verbreitet und populär ist das Symbol des Enneagramms, das mit einer Persönlichkeitstypologie verbunden ist, von Gurdjieff jedoch ursprünglich als Prozessmodell zum Verständnis kosmischer Gesetze und den Gesetzen menschlicher Entwicklung eingeführt worden war. Gurdjieffs eigene „Wesenstypologie“, die „Wissenschaft der Idiotie“ ist weitgehend unbekannt (ich werde demnächst ein Buch dazu veröffentlichen, siehe „Bücher“)
Wie die gnostische oder alchemistische Tradition, die in seine Lehre eingeflossen ist, entwickelte er eine eigene Sprache und Ausdrucksform, die heute schon wieder antiquiert erscheint, jedoch mit Absicht gewählt wurde.
„Er pflegte abstrakte Begriffe zu verdinglichen, konkrete Ausdrücke in einem abstrakten Sinne zu gebrauchen, Gesetze und Prinzipien zu personifizieren. Dies erfordert, dass man, wenn man ihn liest, sich bemüht, die Absicht und das Wesentliche zu erfassen, was eine beträchtliche Veränderung unserer Lesegewohnheit verlangt.“ (John G. Bennett: Der Aufbau einer neuen Welt, S. 293)
Es war Gurdjieffs wesentlicher Beitrag zur heutigen Spiritualität, dass er traditionelle Lehren vieler asiatischer Überlieferungen und viele vor 80 Jahren aktuelle psychologische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu einer eigenständigen Lehre und einem geistigen Weg transformierte. In vieler Hinsicht ist es eine synkretistische Lehre, doch durch tiefe Einsicht in die menschliche Struktur verstand er es, unterschiedliche Methoden und Philosophien, praktische Übungen und psychologisches Know-how zu einem ganzheitlichen „System“ zusammenzuführen.


Titelillustration für den Prospekt zu Gurdjieffs
„Institut der harmonischen Entwicklung des Menschen“, 1923

Gurdjieffs Lehre beruht auf mehreren „Transportmitteln“: seinen Schriften, seinen Methoden und Techniken für die „harmonische Entwicklung“, seinen rituellen Tänzen, seiner Musik, dem Enneagramm und der rituellen Mahlzeit mit den „Toasts auf die Idioten“. In Gurdjieffs Lehre gibt es keine Dogmen, er nannte das Wissen, das er vermittelte, einfach „Ideen“. Ideen sind geistige Bilder, die jeder Mensch auf seine Weise verstehen und damit arbeiten kann. Sie sind nicht statisch.
Seine Strategie war es, viele alte spirituelle Ideen in zeitgemäße Interpretationen umzuwandeln, um so mit seinem System die wissenschaftlich geprägten Menschen des 20. Jh. besser zu erreichen. In seiner Methodik und Präsentation neuer Gedanken scheint die Zen-Philosophie durch, die eine Präsentation immer unvollendet lässt oder paradoxe Ideen aufwirft, an denen ein Schüler längere Zeit arbeiten muss. Auf gleiche Weise arbeitete Gurdjieff mit seinen Schülern (Schulen des Augenblicks). Eine langjährige Schülerin, Solange Claustres, bezeichnet ihn in ihren Erinnerungen als „Zen-Meister und Samurai“.
Als „Meister des Augenblicks“ experimentierte er ständig mit neuen Übungen und Methoden, aus denen besonders Methoden der Selbstbeobachtung, des Selbststudiums sowie das Training der Aufmerksamkeit hervorstechen. Bedeutend sind seine „alchemistischen“ Übungen für die Energietransformation in Verbindung mit Atemtechniken und körperlicher Arbeit und vor allem die sehr effektvollen rituellen Tänze.

Rituelle Tänze

Die Tänze, die einfach „Movements“ genannt wurden, sind ein zentraler und attraktiver Bestandteil seiner Methode. Die über 200 verschiedenen Choreografien werden als Gruppentänze gelehrt. Sie dienen nicht nur dazu, die verschiedenen Teile des Menschen zu harmonisieren, sie sind auch ein intensives und effektives Training der Aufmerksamkeit und des Willens. Im Unterschied zur Ballettchoreografie oder dem Ausdruckstanz, der zur gleichen Zeit entstand, beruhen Gurdjieffs Choreografien auf mathematischen Strukturen, die dem Tänzer „kosmische Gesetzmäßigkeiten“ vermitteln sollen. Die Sprache der Körperhaltung und Gestik wird in vielen Übungssystemen als Steuerungssystem für veränderte Wachbewusstseinszustände genutzt.

Gurdjieff hat außer der Musik für die Tänze etwa 200 weitere Musikstücke zusammen mit dem russischen Komponisten Thomas de Hartmann komponiert. „Keine dieser Kompositionen ist eine sklavische Nachahmung ethnischer Musik. Gurdjieff verwandelt und integriert die subtile Essenz einer uralten Überlieferung und vermittelt sie dem modernen Menschen als Aufforderung, aufzuwachen, und als Unterstützung seines Strebens nach wirklichem Sein“, schreibt der Gurdjieff-Biograf James Moore (in: Gurdjieff – Eine Biographie, München 1992, S. 360).

Neufassung dieses Artikels © Bruno Martin 2007