Gurdjieff Heute

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Die Qualität einer Erfahrung

Jede, jeder von uns, macht jede Sekunde, jede Stunde eine Erfahrung. Doch unbewusste Erfahrung – also das, was ständig unbemerkt mit mir geschieht – trägt wenig zum inneren Wachstum bei. Damit meine ich auch den „Alltagstrott“, die vielen automa­tischen Abläufe und Verhaltensweisen, alle alltäg­lichen Aktivitäten wie Autofahren, einer Arbeit nach­gehen usw. Die meiste Zeit geschehen diese Aktivitäten automatisch, ohne wirkliche bewusste Teilnahme. Dieser Punkt ist nicht leicht zu verstehen, weil wir so befangen in diesen Hand­lungen sind, dass wir nicht bemerken, dass sie mehr oder weniger Routine sind und wir eigentlich gar nicht innerlich daran beteiligt sind. Selbstverständlich sind diese Routinen für das Funktionieren unserer Gesellschaft wichtig und notwendig – ich wäre froh, wenn ich mich auf die Fahrpläne von Bus, Bahn und Flugzeug verlassen kann – was heutzutage gar nicht mehr sicher ist!
Doch nur die Qualität bewusster Erfahrung kann ich in „mich“, in mein Wesen aufnehmen. Wenn Erfahrung mit mir „geschieht“, wenn ich mit offenen Augen „schlafe“, wie Gurdjieff diesen Zustand bezeichnet, dann nützt mir die Erfahrung, mag sie noch so interessant sein, nichts für mein inneres Wachstum.
Doch was ist Erfahrung überhaupt? Jeder Mensch macht eine „Menge Erfahrungen“. Alles, was wir erleben, ist eine Erfahrung. Wir nehmen ständig Sinneseindrücke auf, die vom Körper und den Neuronenaktivitäten im Gehirn in uns verar­beitet wird. Wir speichern auch eine ganze Menge davon ab und erinnern uns bei Gelegenheit oder durch bestimmte Impulse wie Gerüche oder Gefühle an diese Erfahrungen. Die meisten Eindrücke, die wir aufnehmen, werden jedoch unbe­wusst verarbeitet, das sagt auch die Gehirnforschung. Wie „wirklich“ kann dann diese „Wirk­lich­keit“ über­haupt sein?
Eine Gehirnmessung besagt jedoch nur, dass Sinnes­ein­drücke Spuren im Gehirn hinterlassen. Sie kann nichts dar­über aussagen, was wir erfahren und was diese Erfah­rungen in unserem Gehirn und Unterbewusstsein bewirken. Noch weniger kann damit die Qualität einer Erfahrung bewertet werden. Wo und wie wird die besondere Qualität abgespei­chert? Wahrscheinlich nicht nur im Gehirn, sondern im ganzen Körper, in jeder Körperzelle. Doch was geschieht mit bewussten, mit absichtsvollen Erfahrungen, die eine andere Qualität haben als unbewusste Erfahrungen? Bewusste Erfahrungen wirken intensiver, sie haben eine andere Energie als die automatische und ständige Aufnahme von Eindrücken aus der Innen- und der Außenwelt des Körpers.
Erfahrungen insgesamt sind tatsächlich nicht materiell, sie haben keine materielle „Substanz“, auch wenn sie Spuren im physischen, materiellen Körper hinterlassen.
Allein unter diesem Gesichtspunkt ist es von großer Bedeu­tung, ob Erfahrungen mit uns geschehen und ob wir positive oder negative Eindrücke und Informationen in dieses Feld gelangen lassen. Mit mehr Wachheit und Aufmerk­samkeit können wir einige Einflüsse so filtern, dass diese gar nicht die sensiblen Informationsfelder in unserem Körper erreichen. Glücklicherweise benötigen wir kein „technisches“ Instrument für diesen Filter. Wir haben die Fähigkeit zur absichtlichen, bewussten Wahrnehmung. Das Instrument dafür ist unser Bewusstsein – wenn es erwacht ist.
Innere Übungen, die wir mit der Morgenübung und Meditationen machen stimulieren die „Energie“ der Erfahrung. Daher geschieht bei jeder bewusst ausgeführten Übung auch eine Energie- und Informations­transformation, und das bedeutet, sie hinterlässt Spuren, auf denen man jedes Mal weiter aufbauen kann.
Mit jeder Handlung, die wir mit Achtsamkeit und Aufmerksamkeit tätigen, kann eine Erfahrung gemacht werden, die bewusste Energie weckt, die dann im inneren Körper gespeichert wird. Eine tiefere Erfahrung mit bewusster Energie vermehrt in unserem “Bewusstseinskontinuum” die bereits gespeicherte Erfahrungsenergie – wo auch immer… Deshalb können wir immer wieder an dieser Bewusstseinsqualität anknüpfen und dieses “Bewusstseinskontinuum” bemerken. Mit “gewöhnlichen” Erfahrungen erinnern wir uns an bestimmte Ereignisse, doch diese Erinnerung hat nicht dieselbe Kraft wie das bewusste Feld, das wir erzeugt haben.

Gegenwärtigsein als Mittel zur Stressreduktion

Unsere Aufmerksamkeit wird andauernd von gedankli­chen Assoziationen und Bildern im Kopf, die ständig in uns herumschwirren, abgezogen. Dieser Umstand führt schnell zu einem körperlichen Ungleichgewicht, der Körper oder Körperteile beginnen sich zu verspannen. Das zieht Energie ab und wir werden müde, auch wenn wir sonst nichts tun. Dabei sind wir gespalten zwischen ziellosen Gedanken und Emotionen. Es kommt auch häufig vor, dass das Denkzentrum immer wieder irgend­welche Gespräche wiederholt, die wir geführt haben, oder noch schlimmer: Es wiederholt ständig Angelegenheiten, mit denen wir uns beschäftigt haben oder beschäftigen müssen. Häufig rattert das Hamsterrad auch in unserem Kopf, wenn wir einschlafen wollen, so dass wir keinen Schlaf finden.
Um Gegenwärtig zu sein, müssen wir einen Weg finden, diese inneren Stressfaktoren abzustellen. Daselbe gilt für äußere Stressfaktoren: Vielem sind wir ausgeliefert: Aufgaben, wie wir unter Zeitdruck bewältigen müssen, Lärm von Außen, emotionale Spannungen mit anderen Menschen und vieles mehr.
Es ist nicht leicht, gedankliche Assoziationen zu bremsen, weil sie – wenn einmal in Gang gesetzt – vom Gehirn immer weiter bearbeitet werden. Daher ist es wichtig zu lernen, den vielen Gedankenabläufen im Kopf, den ständig wechselnden Bildern und sonstigen Gehirnaktivitäten keine Aufmerksamkeit zu schenken.
Eine hilfreiche Übung dazu ist, den Schwerpunkt vom Denkzentrum in die Mitte der Brust zu bringen, in den Bereich zwischen Kehlkopf und Solar Plexus, in das, was wir Gefühls- oder Wesenszentrum nennen.
Von diesem Bereich aus können wir ein Gleichgewicht zwischen der körperlichen und mentalen Aktivität her­stellen. Damit werden auch die Spannungen im Körper und im Kopf abgebaut. Es ist zudem hilfreich, bewusst in dieses Zentrum hineinzuatmen mit dem Gedanken: Ich bin bei mir selbst, ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen. Wir leiten nichts in diesen Bereich »hinein«, sondern erwecken die sensitive Energie, die dort latent vorhanden ist. Wichtig ist dabei, das klare Gefühl zu entwickeln: »Ich bin hier präsent, in mir selbst verankert.«
An diese Übung sollten wir uns immer wieder er-innern, weil sie uns in unseren »normalen« Seinszustand bringt, den ausgeglichenen, harmonisch synchronisierten Zustand aller Zentren. In diesem Zustand des Gegen­wärtigseins und des inneren Gleichgewichts können wir dann auch initiativ werden. Das bedeutet, wir sind in der Lage, uns von den unbewussten Schwankungen und dem damit verbundenen körperlichen und emotionalen Unwohlsein und den Muskelverspannungen frei zu machen. Auf diese Weise kommen wir auch wieder in Kontakt mit dem eigenen Zentrum.

Die im Video angeleitete Übung kann helfen, diesen Zustand herzustellen.

Weitere Anregungen und Übungen zu diesem Thema findest du in meinem “Gurdjieff Praxisbuch 2”